domingo, 23 de mayo de 2010

DER SPIEGEL- JOSCHKA FISCHER

22. Mai 2010, 00:00 Uhr

Europa

"Blamabler Vorgang"

Der frühere Außenminister Joschka Fischer, 62, über die Rolle der Kanzlerin in der Euro-Krise, die Zukunft der EU und den überraschenden Erfolg seiner Partei, der Grünen.

SPIEGEL: Herr Fischer, ist Angela Merkel eine große Europäerin?

Fischer: Angela Merkel hatte in den vergangenen Wochen ihr Rendezvous mit der Geschichte. Das hat sie, anders als Helmut Kohl nach dem 9. November 1989 oder Gerhard Schröder nach dem 11. September 2001, ziemlich versemmelt.

SPIEGEL: Sie hat dabei geholfen, dass ehrgeizigste Rettungspaket der europäischen Geschichte zu schnüren.

Fischer: Ja, der Rettungsplan für den Euro ist richtig, aber er hätte bereits im Februar kommen müssen. Da war spätestens klar, dass Griechenland für die Spekulanten nur der Anlass ist, um einen Generalangriff auf den Euro zu führen. Wäre die Bundeskanzlerin nicht gewesen, hätte Europa schon viel früher handeln können. Und jetzt haben wohl eher Sarkozy und Berlusconi gehandelt, nicht unsere Regierung. Die Kanzlerin durfte noch zustimmen.

SPIEGEL: Ist das nicht egal? Die Hauptsache ist doch, dass das Rettungspaket steht.

Fischer: Das ist mitnichten egal. Deutschland ist in der EU isoliert wie niemals zuvor, wir Deutschen müssen dennoch finanziell die Hauptlast schultern, und der französische Präsident wird dafür gefeiert. Das nennt man Staatskunst der Extraklasse! Ich kann mich nicht erinnern, dass es seit 1949 einen ähnlich blamablen Vorgang schon einmal gegeben hat.

SPIEGEL: Sie sind ja gut in Fahrt. Übertreiben Sie nicht ein bisschen?

Fischer: Kein Stück. Den Medien war zu entnehmen, dass die Kanzlerin nicht gewusst haben soll, was sie erwartet, als sie zum Treffen mit den anderen Regierungschefs der Euro-Gruppe in Brüssel reiste. Wenn das zutrifft, ist dies ein unglaublicher Vorgang.

SPIEGEL: Wie hätte Frau Merkel reagieren sollen?

Fischer: Die Kanzlerin hätte einen eigenen Vorschlag zur Rettung des Euros machen müssen, abgestimmt mit Frankreich. Wir sind als stärkste Wirtschaftsmacht Europas in der Verantwortung. Die EU kann ihre Probleme auf Dauer nicht lösen, wenn Deutschland sich versteckt. Wir zahlen einen hohen Preis für unsere Verweigerungshaltung. Wir werden im gesamten Mittelmeerraum mit Misstrauen betrachtet. In Griechenland sind wir die Schurken. Das ist extrem beklagenswert angesichts dessen, was unser Land bisher für Europa geleistet hat.

SPIEGEL: Ist Merkel als Europapolitikerin gescheitert?

Fischer: Die Kanzlerin hat noch eine zweite Chance. Sie hat bei ihrer Rede zur Karlspreis-Verleihung gesagt: Wenn der Euro scheitert, dann scheitert das europäische Projekt. Das stimmt. Jetzt muss sie entsprechend handeln. Schöne Worte allein genügen nicht mehr

SPIEGEL: Die EU existierte schon, bevor es den Euro gab. Wieso soll sie am Ende sein, wenn sich die gemeinsame Währung nicht durchsetzt?

Fischer: Es geht nicht allein um eine Währung, es geht um das europäische Projekt als solches. Es geht um die Frage, ob Europa stark genug ist und den gemeinsamen Willen hat, dieses Projekt auch gegen Angriffe von außen, in diesem Fall von Spekulanten, zu verteidigen. Es kommt dabei zentral auf Geschlossenheit und Entschlossenheit an. Leider hat unser Land seit Ausbruch der Krise um Griechenland völlig anders reagiert.

SPIEGEL: Wie kann es sein, dass ein kleines Land wie Griechenland die EU in eine existentielle Krise stürzt?

Fischer: Es ging von Anfang an nicht nur um Griechenland. Die Märkte haben Europa knallhart mit der Realität konfrontiert. All unsere schönen Illusionen - auch meine eigenen -, all unser Selbstbetrug, all das wurde weggefegt. Echte Integration oder Auflösung, das ist heute die Alternative.

SPIEGEL: Welche Illusionen meinen Sie?

Fischer: Es hieß doch immer, man dürfe nicht mehr über die Vereinigten Staaten von Europa reden. Es hieß, der Euro könne allein auf Basis der Maastricht-Kriterien funktionieren, ohne weitere politische Integration. Die Märkte haben uns nur vor Augen geführt, dass das so nicht funktioniert. Deswegen muss man jetzt einen mutigen Schritt nach vorn machen.

SPIEGEL: Und wohin ginge dieser Schritt?

"Solidarität ist eine Zweibahnstraße"

Fischer: Die Währungsunion hat sich jetzt, nach der Garantie von 750 Milliarden Euro, zu einer Solidaritätsgemeinschaft transformiert. Die gilt es jetzt umzusetzen, und das heißt wesentlich mehr und nicht weniger Integration.

SPIEGEL: Solidaritätsgemeinschaft heißt, dass Deutschland für die Versäumnisse anderer zahlt.

Fischer: So ein Unfug! Die Europäische Union war von Anfang an eine Transferunion. Gemeinsamer Markt und Agrarmarkt waren und sind an erster Stelle Transfergarantien für Deutschland und Frankreich! Und Deutschland hat davon mit Abstand am meisten profitiert. Ohne den Euro hätten viele Länder ihre Währung abgewertet. Den Preis hätten wir als Exportnation gezahlt, die überwiegend von Europa abhängt, weil unsere Produkte sich verteuert hätten. Dafür müssen wir jetzt einen gewissen Ausgleich leisten. Daran führt kein Weg vorbei.

SPIEGEL: Solidarität heißt, für jene Staaten geradezustehen, die wie Griechenland die Gemeinschaft belogen haben?

Fischer: Solidarität ist eine Zweibahnstraße. Das heißt, dass in Zukunft in der Euro-Gruppe nicht ein Land seine Arbeitnehmer mit 67 Jahren in Rente schicken kann und ein anderes schon mit 55 Jahren. Es wird auch nicht gehen, dass manche Länder ungehindert Schulden machen, während andere sparen. Es gibt eine Reihe von Ländern, die wettbewerbsfähiger werden müssen. Ohne all das funktioniert der Euro nicht, das wissen wir jetzt.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Europa muss deutscher werden.

Fischer: Nein, wettbewerbsfähiger. In der Sozialpolitik, bei den Steuern, in der Wirtschaftspolitik müssen sich die EU-Mitglieder besser koordinieren, ja sogar weitgehend integrieren.

SPIEGEL: Warum haben Sie nicht während Ihrer eigenen Regierungszeit damit begonnen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU enger zu koordinieren?

Fischer: Deutschland war damals wirtschaftlich in einer extrem schwierigen Lage. Wir mussten die in den neunziger Jahren versäumte Modernisierung nachholen. Wir haben schließlich den Mut gehabt, die Agenda 2010 zu machen. Das war richtig, aber es hat dann auch zum Ende unserer Regierung geführt.

SPIEGEL: Sie sind mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Unter der rot-grünen Regierung hat die Bundesrepublik als eines der ersten Länder die Stabilitätskriterien gebrochen.

Fischer: Es hat sich gezeigt, dass die Maastricht-Kriterien nur in ökonomischen Schönwettersituationen funktionierten. Wir haben die Kriterien verletzt, weil wir die ökonomischen Folgen der deutschen Einheit bezahlen mussten. Das war eine wirtschaftliche und soziale Herausforderung, die in den neunziger Jahren nicht ernsthaft genug angegangen wurde.

SPIEGEL: Also nicht Sie waren schuld, sondern die Kriterien?

Fischer: Klar haben auch wir unsere Fehler gemacht, aber jeder anderen deutschen Regierung wäre es damals genauso gegangen. Wir haben ja nicht die Hände in den Schoß gelegt. Wir haben schmerzhafte Reformen angepackt, die unabweisbar waren, mit allen bekannten Folgen.

SPIEGEL: Wie wollen Sie verhindern, dass Griechenland in zehn Jahren wieder Hilfe braucht?

Fischer: Das Land unternimmt gegenwärtig sehr große Anstrengungen, und es muss ihm dabei geholfen werden, dass es wieder auf die Füße kommt. Das ist auch in unserem und im europäischen Interesse! Aber die Griechen werden auch in zehn Jahren keine Deutschen sein und die Deutschen keine Griechen. Wir brauchen kein Umerziehungsprogramm, sondern zum Beispiel eine wirksamere Finanzkontrolle. Der Vorschlag der Kommission, die nationalen Haushalte zunächst in Brüssel prüfen zu lassen, ist vernünftig.

SPIEGEL: Die bahnbrechenden Entscheidungen der vergangenen 20 Jahre sind gegen die Mehrheit der Bevölkerung gefällt worden: die Einführung des Euro, die Osterweiterung, jetzt das Hilfspaket. Braucht Europa nicht auch eine Mehrheit im Inneren?

"Das Harakiri der FDP halte ich für beispiellos"

Fischer: Das ist ein zentraler Punkt. Aber wo stünden wir denn heute, ohne alle diese Entscheidungen? Mir fehlt bei vielen Politikern die Bereitschaft, sich für dieses Europa wirklich einzusetzen und dafür um Mehrheiten zu kämpfen. Es muss Schluss sein damit, dass in Brüssel im Kreise der Regierungschefs Dinge beschlossen werden, für die dann zu Hause "die EU" verantwortlich gemacht wird.

SPIEGEL: Was genau würde denn das Ansehen Europas verbessern?

Fischer: Sie müssen der Bevölkerung erklären, worum es bei Europa geht. Und sie müssen bereit sein zu führen und aus Minderheiten Mehrheiten zu machen. Ich hab aus meiner europäischen Überzeugung nie ein Geheimnis gemacht. Ich bin offensiv aufgetreten in den Medien, auf den Marktplätzen, in den Wahlkämpfen, egal ob im Bund oder in den Ländern.

SPIEGEL: Zu Europa bekennen sich doch die meisten deutschen Politiker.

Fischer: Nur, wenn es sehr abstrakt bleibt. Man muss der Bevölkerung aber auch das Unbequeme zumuten. Es wird nicht erklärt, warum der Euro für Deutschland wichtig ist und was sein Scheitern hieße. Es wird nicht erklärt, warum Deutschland immer bezahlt hat - weil es nämlich der große Gewinner in Europa ist. Man muss die Dinge erklären, und zwar von ganz oben! Und dafür muss man auch bereit sein, ein politisches Risiko einzugehen.

SPIEGEL: Ihren Nachfolger Guido Westerwelle hat man in der Euro-Krise so gut wie gar nicht wahrgenommen. Spielen die Außenminister nach dem Lissabonner Vertrag keine Rolle mehr in Europa?

Fischer: Die Europazuständigkeit ist nach wie vor im Auswärtigen Amt.

SPIEGEL: Das heißt, Westerwelle hätte mehr tun können?

Fischer: Ich äußere mich nicht zu meinem Nachfolger. Aber Sie lesen ja auch die Zeitungen.

SPIEGEL: Noch mal: Wie stark ist die Rolle der Außenminister geschrumpft?

Fischer: Wenn ein politischer Wille da ist und die Energie, und wenn man für Europa brennt und Ideen entwickelt, dann wird einen auch heute niemand daran hindern können, sich einzumischen.

SPIEGEL: Wir würden Sie gern noch als ausgewiesenen Experten für Fehlstarts befragen.

Fischer: Das bin ich nicht.

SPIEGEL: Wenn Sie sich die ersten Monate der Bundesregierung ansehen, fühlen Sie sich dann an den Start von Rot-Grün erinnert?

Fischer: Überhaupt nicht.

SPIEGEL: Bei Ihnen ging doch am Anfang auch alles drunter und drüber.

Fischer: Ich kenne das Gefühl, wenn man erstmals an die Regierung kommt. Du kannst es nicht fassen. Du bist angekommen! Und dann diese graugesichtigen, griesgrämigen Vorgänger, die da abgeschlafft und völlig erschöpft aus den Büros herauskriechen. Das Regieren scheint zu Beginn sehr leicht zu sein, bis die ersten Treffer einschlagen. Bei uns ging es damit sehr schnell, denn wir hatten von Anfang an mit dem heraufziehenden Kosovo-Krieg zu tun. Sie müssen mal beobachten, wie Regierungen in ihrer taufrischen Jugend aussehen und wie sie dann zwei Jahre später aussehen. Ich habe all dies selbst erlebt. Insofern verstehe ich einiges, was in der Koalition abgelaufen ist.

SPIEGEL: Dann sind Sie ja doch ein Experte.

Fischer: Moment. Das Harakiri der FDP halte ich für beispiellos. Ohne Feindeinwirkung, ohne Druck der Opposition stürzen die sich in sämtliche herumstehenden Schwerter. Ich muss sagen, da klappt mir heute noch der Unterkiefer runter. Ich kann nicht wirklich begreifen, warum sie das getan haben.

SPIEGEL: Was würden Sie Ihren liberalen Kollegen denn jetzt raten?

Fischer: Oh, ich freue mich schon auf den Tag, an dem die Koalition beschließt, den vollen Mehrwertsteuersatz für das Hotelgewerbe wieder einzuführen. Das wird wohl zum Sparpaket gehören müssen. Die FDP hat nicht verstanden, dass sich die Welt in der Finanzkrise radikal verändert hat. Sonst hätte sie so einen Beschluss nicht gefasst. Sonst hätte sie nicht so stur an ihren Steuersenkungsplänen festgehalten.

SPIEGEL: Was raten Sie Ihrer eigenen Partei? Sollen die Grünen sich eher Richtung CDU orientieren oder in ein Linksbündnis mit SPD und Linkspartei gehen?

Fischer: Da müssen Sie die heute Verantwortlichen fragen. Ich beobachte, wie die Linkspartei furchtbar mit sich ringt. Sie wollen nicht enden wie die Grünen, aber sie würden gern in die Regierung gehen. Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass. Das wird nicht funktionieren.

SPIEGEL: Uns ist etwas Interessantes aufgefallen. Ohne Joschka Fischer geht es den Grünen besser. In den Umfragen kommen sie momentan auf sensationelle 16 oder 17 Prozent. Wie erklären Sie das?

Fischer: Ganz einfach: Endlich ist er weg, der Alte. Das ist die segensreiche Wirkung des Altenteils.

SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Markus Feldenkirchen und Ralf Neukirch


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