jueves, 22 de julio de 2010

"HURRA, WIR LESEN NOCH!"

LESEKULTUR

Hurra, wir lesen noch!

Die Statistiken belegen keinen Niedergang der Schriftkultur. Und auch im Internet wird vor allem eines: Gelesen

Seit Jahrzehnten steigt der Umsatz des deutschen Buchhandels (mit einem kleinen Einbruch zwischen 2001 und 2004) jährlich um rund ein Prozent; 2009 erreichte die Produktion den sagenhaften Wert von 93124 neuen Titeln. Wo also ist sie, die viel beschworene Krise des Lesens und der deutschen Buchnation? Kann es tatsächlich sein, dass wir es mit einer Verlagsbranche zu tun haben, die unerschütterlich und wie blöde über jede faktische Nachfrage hinweg produziert? Und damit niemand denke, es könne sich nur um eine Konjunktur von Bildbänden, Kochbüchern und Ratgebern handeln: Mit einem Drittel aller verkauften Bücher stellt die Belletristik das stärkste und noch immer wachsende Segment. Mit anderen Worten und allen pessimistischen Einschätzungen zum Trotz: Es muss die Menschen geben, die diese Bücher lesen und besitzen wollen – oder die zumindest zuhauf andere Menschen kennen, denen sie die Bücher zum Besitz oder zur Lektüre schenken wollen.

Aber natürlich – es gibt auch andere Zahlen, die den Grund zu der verbreiteten Niedergangsvermutung legen. Ein Viertel aller Jugendlichen und Erwachsenen liest nie, ein Viertel der Gesamtbevölkerung findet, dass Lesen sie zu sehr anstrenge. Sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung rechnen zu den funktionellen Analphabeten, also zu den Menschen, die lesen und schreiben gelernt, aber tatsächlich damit große Schwierigkeiten haben. Auch die Zahl der jährlich – von wem auch immer – gelesenen Bücher und die Zahl der im Durchschnittshaushalt vorhandenen Bücher sinken. Und wenn man ein wenig weiter in die Kapillaren des Leseverhaltens vordringen will: Manche Zahlen sprechen dafür, dass auch die Buchleser nur noch in Häppchen oder mehrere Bücher nebeneinander oder sogar bei Nichtgefallen niemals zu Ende lesen. Groß ist auch die Zahl der Schufte, die von Büchern einseitig Spannung und Unterhaltung fordern.

Aber was ist damit gesagt? Dass zu dem Nichtleser nun auch noch der mäklerische, schlecht disziplinierte und vergnügungssüchtige Leser tritt? Tatsächlich lassen sich die Statistiken auch anders lesen: Dem Viertel der Nichtleser steht ein ebenso unerschütterliches Viertel von Viellesern gegenüber. Ein Viertel betrachtet Bücher als gute Freunde, liest ein- oder mehrmals pro Woche in ihnen, ein Fünftel sogar täglich. Ein knappes Zehntel liest zwanzig bis fünfzig Bücher im Jahr. Nimmt man Zeitungen und Zeitschriften hinzu, kommt man auf einen Anteil der Vielleser an der Bevölkerung von über einem Drittel; und dieses Verhältnis ändert sich nicht, wenn man ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund befragt. Wenn Leseverhalten ein Hinweis auf Bildung und Bildungsehrgeiz ist, dann unterscheidet sich das vielfach beargwöhnte Migrantenmilieu in nichts von der deutschen Mehrheitsbevölkerung.

Das sollte doch ermutigend sein. Ein solider Sockel von Viellesern steht einem, zugegebenermaßen ebenso soliden Sockel von Nichtlesern gegenüber. Kann man mehr überhaupt erwarten? War es jemals anders? Der Pessimismus kann Nahrung nur finden, wenn er erwartet, dass mit der steigenden Zahl von höheren Bildungsabschlüssen, von Abitur und Hochschuldiplomen, auch die Zahl der Leser zunehmen müsse. Das tut sie freilich nicht. Die Lektüreneigung bleibt, bei Deutschen ebenso wie bei Migranten, unverrückbar geknüpft an das Bildungsniveau der Elternhauses. Jugendliche, auch wenn sie eine höhere Berufsqualifikation erwerben als ihre Eltern, verändern augenscheinlich das ererbte Leseverhalten nicht.

Indes haben alle Statistiken einen Fehler: Sie berücksichtigen nur das Freizeitverhalten. Was aber ist mit der beruflich erforderlichen Lektüre? Ist nicht anzunehmen, dass gerade aufstrebende Schichten vornehmlich lesen, um in ihrem Beruf voranzukommen? Und ist gesagt, dass sie zu diesem Zweck ausschließlich Bücher konsumieren müssen? Was ist mit dem Internet und seiner überbordenden Fülle an Informationen und Fachwissen?

Das Internet ist die große Leerstelle in der zeitgenössischen Leseforschung. 72 Prozent der Deutschen sind mittlerweile online, 90 Prozent der Schulkinder haben, vorsichtig geschätzt, einen Computerzugang. Bei Jugendlichen, deren nachlassende Neigung zu Druckerzeugnissen so lebhaft beklagt wird, hat das Internet alle übrigen Freizeitbeschäftigungen auf hintere Plätze verdrängt. Und was, glauben die Lesepessimisten, machen die Nutzer im Internet? Sicherlich hören sie auch viel Musik und schauen Videos auf YouTube; aber vor allem anderen ist das Internet ein Lesemedium. Selbst die Begeisterung für das Gesehene und Gehörte schlägt sich augenblicks in – gelesenen und geschriebenen – Diskussionen nieder. Und all die Fanseiten, die sich mit der Fortdichtung von geliebten Fernsehserien, Romanen oder Kinderbüchern beschäftigen – in welchem Medium drücken sie ihren Enthusiasmus wohl aus? Im Medium der Schrift. Im Internet läuft, neben anderem, auch ein großer Transmissionsriemen, der unablässig Bilder und Töne in Texte übersetzt.

Gerade der interaktive Charakter des Netzes, es kann nicht anders sein, fordert und trainiert die Lektüre und den schriftlichen Ausdruck. Die Konjunktur von Kommunikationsdiensten wie Twitter oder Facebook ist ohne ausdauernde Texttätigkeit gar nicht denkbar. Wahrscheinlich, aber hier fehlen nun die Zahlen, ist noch niemals so viel gelesen und geschrieben worden wie heute im Internet. Die Jugendlichen haben sich vielleicht tatsächlich von den Druckmedien fortbewegt. Sie lesen aber im Netz. Überflüssig zu erwähnen, dass E-Mail und SMS, die den Brief ersetzt haben, ebenfalls gelesen werden müssen. Und die viel geschmähten Graffiti gehören wahrscheinlich zu den kompliziertesten Schriftstücken überhaupt, in ihrer Komplexität nur von der altarabischen Kalligrafie übertroffen. Um die Kürzel auf den Wänden herstellen und entziffern zu können, braucht es ein spektakulär geschultes Auge.

Wahrscheinlich haben, alles zusammengenommen, Lesen und Schreiben in der Bevölkerung sogar zugenommen; nur dass der Zuwachs sich nicht in den traditionellen Schriftmedien niedergeschlagen hat. Die Überlegung ist so schlagend und schlicht, dass es wundernimmt, warum sie nicht dem rituellen Lesepessimismus entgegengesetzt wird. Manches spricht dafür, dass die Stiftung Lesen und andere Institute der Leseforschung einseitig auf die Druckmedien fixiert sind – also auf die Erzeugnisse der Branche, von der sie finanziert werden. Natürlich kann man einen Untergang der Bücher, Zeitungen, Zeitschriften beklagen – aber mit gutem Grund nur, wenn man von einem Umzug aller Publikationsmedien ins Netz einen dramatischen Qualitätsverlust erwartet. Für die reine Lesekompetenz ist es unerheblich, ob ein Roman als E-Book oder ein Leitartikel online rezipiert wird.

Und noch etwas, Hand aufs Herz: Die gedruckte Form veredelt nicht den Inhalt. Schmutz und Schund sind, medizinisch gesprochen, in jeder Darreichungsform möglich. Alle Klagen, die sich heute an Computerspiele und Internetpornografie knüpfen, sind schon im 18. Jahrhundert (und das ganze 19. hindurch) über Bücher geäußert worden. Die Jugend lässt sich immer verderben. Es schrieb im Übrigen auch nicht Goethe die Bestseller seiner Zeit; das taten eher Johanna und Adele Schopenhauer, Mutter und Schwester des berühmten Philosophen, und wer sie liest, wird über Lara Croft vielleicht noch einmal neu nachdenken.

Kurzum: Wer über den Niedergang des Lesens spricht, muss genauer sagen, was er meint. Meint er tatsächlich die Kulturtechnik? Oder meint er das gute Buch? Meint er die Absatzsorgen einer Branche oder den Verfall von Bildung? Auch das ließe sich diskutieren – es wäre aber eine ganz andere Diskussion. Man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten oder, besser gesagt, nicht das Badewasser mit der Wanne verwechseln.

Diesen Artikel finden Sie als Audiodatei im Premiumbereich unterwww.zeit.de/audio

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