lunes, 12 de julio de 2010

HELMUT SCHMIDT: "NUR KEINE ANMASSUNG"

EUROPÄISCHE UNION

Nur keine Anmaßung

Deutschland darf der Versuchung zu Alleingängen in Europa nicht nachgeben

Die griechische Haushaltskrise stellt die Stabilität der Europäischen Union vor eine Bewährungsprobe. Im Bild: Sarkozy (Frankreich), Zapatero (Spanien), Papandreou (Griechenland) und Bundeskanzlerin Merkel

Die griechische Haushaltskrise stellt die Stabilität der Europäischen Union vor eine Bewährungsprobe. Im Bild: Sarkozy (Frankreich), Zapatero (Spanien), Papandreou (Griechenland) und Bundeskanzlerin Merkel

Die Zukunft der Europäischen Union und die Rolle Deutschlands in Europa werden seit der Griechenlandkrise lebhaft diskutiert. Es liegt mir am Herzen, in diesem Zusammenhang an eine gute Tradition der Bundesrepublik zu erinnern: an die Kontinuität ihrer Außen- und Sicherheitspolitik.

Während des erbitterten Streits zwischen dem ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem sozialdemokratischen Gegenspieler Kurt Schumacher wie auch zwischen unseren politischen Parteien hat in den 1950er Jahren kaum jemand damit gerechnet, dass nicht nur alle späteren CDU-Regierungen, sondern ebenso auch alle SPD-Regierungen die durch Adenauer erfolgte Bindung der Bundesrepublik an das atlantische Bündnis und an die europäische Integration fortsetzen würden. Trotz des langen Streits über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik hat von 1969 an die Regierung von Brandt den Aufbau der Bundeswehr fortgesetzt und sie sogar modernisiert. Kaum einer hat erwartet, dass die Regierung Kohl die Brandtsche Ostpolitik anstandslos fortsetzen würde.

Das Gleiche gilt für den unter Brandt völkerrechtlich vollzogenen Verzicht auf atomare Waffen für die Bundeswehr. Die CDU/CSU war vehement gegen diesen Verzicht, aber als sie 1982 wieder an die Regierung kam, hat Kanzler Kohl nicht etwa erwogen, den Nichtverbreitungsvertrag über atomare Waffen wieder zu kündigen. Ebenso hat Kohl schließlich die durch meine Unterschrift in Helsinki erfolgte Anerkennung der deutsch-polnischen Grenze bestätigt.

Und last, but not least: Sechzig lange Jahre haben alle Regierungen unseres Staates ohne Ausnahme sich zur europäischen Integration nicht nur bekannt, sondern sie haben tatkräftig dazu beigetragen.

Diese seit Jahrzehnten anhaltende deutsche Stetigkeit, unsere zuverlässige Berechenbarkeit ist zu einem von mehreren unverzichtbaren Faktoren des in Europa anhaltenden Friedens geworden – und zugleich zu einem von mehreren unverzichtbaren Faktoren, die heute vor zwanzig Jahren die deutsche Vereinigung möglich gemacht haben. Es war der für alle unsere europäischen Nachbarn historisch einmalige neue Eindruck stetiger deutscher Zuverlässigkeit, es war die Erfahrung deutscher Zuverlässigkeit – und dazu das Beispiel Gorbatschows –, die es Bush senior und Helmut Kohl ermöglicht haben, die Skepsis und den Widerstand unserer Nachbarn gegen die Wiedervereinigung zu überwinden.

Schließlich haben unsere Nachbarn damit Deutschland zum volkreichsten Mitgliedsstaat der Europäischen Union gemacht und zugleich zu ihrer größten Volkswirtschaft. Heute ist Deutschland doppelt so groß wie Polen, achtmal so groß wie die Tschechische Republik, fünfmal so groß wie Holland, fünfzehnmal so groß wie Dänemark, und unsere Volkswirtschaft ist die viertgrößte der ganzen Welt. Diese angesichts der bisherigen Geschichte einmalige Größenordnung unseres Vaterlandes muss uns drängen zur Rücksichtnahme auf unsere vielen Nachbarn und auf unsere EU-Partner.

Wenn ein dicker und fetter Nachbar sich gegenüber einem kleineren Nachbarn anmaßend benehmen sollte, dann weckt er bei dem Nachbarn Ängste und Abneigung.

Wenn dann noch die Erinnerung an die deutsche Besatzung und ihre Verbrechen im letzten Weltkrieg hinzukommen sollte, wenn obendrein der Genozid an den Juden keineswegs vergessen ist, dann kann daraus Unheil für beide Nachbarn entstehen.

Aber auch dann, wenn wir Deutschen uns wieder einmal in übertriebener Weise ängstigen lassen sollten, zum Beispiel heute wegen der Zukunft der Weltwährung Euro, so kann sich daraus die Versuchung zu einem deutschen Alleingang ergeben. Jedoch dürfen wir solcher Versuchung nicht nachgeben. Vielmehr muss die Rücksichtnahme auf unsere Nachbarn und Partner Vorrang behalten. Unser Feld ist nicht die Weltpolitik und nicht die atomare globale Strategie, nicht Asien, nicht der Nahe und Mittlere Osten oder Afrika, sondern unsere europäischen Nachbarn sind unser Arbeitsfeld.

Der Ausbau der Europäischen Union geschieht nicht aus Idealismus. Sondern für uns Deutsche ist er eine strategische Notwendigkeit. Das vereinigte Deutschland hat die Einbindung in die Gemeinschaft der Europäer dringend nötig. Unsere Regierung darf dabei niemals vergessen: Ohne Frankreich bliebe alle Arbeit an der Integration erfolglos.

Wenn die EU gegenwärtig als weitgehend handlungsunfähig erscheint, dann liegen die Ursachen in den Fehlern, die man seit der großen Wende gemacht hat – genauer gesagt: seit Maastricht 1991/92. Paris und Berlin waren gleicherweise an manchen dieser Fehler beteiligt. Wenn diese beiden Regierungen aber darüber hinaus neuerdings bei der Lösung akuter Probleme sogar gegeneinander operieren, dann können beide gemeinsam schuldig werden gegenüber allen anderen Nachbarn.

Jede Bundesregierung muss wissen: Niemand darf es riskieren, die deutsche Zuverlässigkeit in den Augen unserer Nachbarn und Partner zu verspielen.

Helmut Schmidt hat diese Gedanken zuerst in seiner Dankrede für die Verleihung des Point-Alpha-Preises am 17. Juni im thüringischen Geisa vorgetragen. Der Point-Alpha-Preis, benannt nach einem amerikanischen militärischen Beobachtungspunkt an der ehemaligen Zonengrenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, wurde Schmidt für seine Verdienste um die Einheit Deutschlands und Europas verliehen


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