KONJUNKTUR
Ganz schön stark
Auf einmal wächst Deutschland so schnell wie China. Wie ist das möglich?
Immer morgens um acht Uhr mitteleuropäischer Zeit melden Roderich Egeler und seine Leute vom Statistischen Bundesamt, wie es dem Land so geht. Zahl der Adoptionen deutlich zurückgegangen, schreiben sie dann. Oder: Bierabsatz im ersten Halbjahr 2010 um 0,7 Prozent gesunken. Mehr als 500 Pressemitteilungen mailen die Statistiker jedes Jahr an die Redaktionen der Republik – wenn es gut läuft, drucken die Zeitungen am nächsten Tag im hinteren Teil eine kleine Meldung.
Seit 2008 führt Egeler das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Die Information, die er an diesem Freitag verschickt hat, macht Schlagzeilen: Die deutsche Wirtschaft expandiert so rasant wie nie zuvor seit der Wiedervereinigung. Allein im zweiten Quartal wuchs sie um 2,2 Prozent – auf das Jahr hoch gerechnet entspricht das einer Rate von 8,8 Prozent. Das ist mehr als in China, wo nur acht Prozent erreicht worden waren. Deutschland wächst auch schneller, als es die ohnehin optimistische Regierungsprognose von 1,5 Prozent vorsah. Mit ungeahnter Wucht erhebt sich das Land aus der Krise. Roderich Egeler, 60 Jahre, war mal Leiter des Beschaffungsamtes im Bundesinnenministerium. Nun verschafft er den Deutschen ein überraschendes Glücksgefühl: Aufschwung! Wachstum!
Auf einmal ist Deutschland eine der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt.
Auf einmal wächst die deutsche Wirtschaft so schnell wie nur die chinesische oder indische – und viel schneller als die der USA oder Großbritanniens.
Auf einmal kehrt ein Gefühl zurück, das drei Krisenjahre lang begraben war unter Bergen von Katastrophenmeldungen und Schreckensszenarien. Das Gefühl heißt: Es ist wieder etwas möglich in diesem Land. Für seine Bürger. Für die Unternehmen. Ja sogar für diese Regierung.
Wer den Aufschwung verstehen will, muss in den Südwesten der Republik schauen. Hier entstehen die Maschinen, um die sich die Kunden auf den Weltmärkten reißen. Um 35 Prozent seien die Auftragseingänge der Firmen aus der Region in den ersten fünf Monaten 2010 gestiegen, sagt Thomas Lindner, Chef des Verbands der Maschinen- und Anlagenbauer VDMA in Baden-Württemberg. Geliefert werden die Produkte made in Germany vor allem in die aufstrebenden Wirtschaftsmächte: nach China, Indien, Südkorea oder Brasilien. Ob bei Voith in Heidenheim oder bei Daimler in Stuttgart – es ist überall dasselbe Bild. Um mindestens elf Prozent, schätzt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, werden die Exporte im Gesamtjahr zulegen.
»Deutschland ist die Konjunkturlokomotive Europas«, jubelt Wirtschaftsminister Rainer Brüderle, doch die Metaphernstärke des FDP-Mannes kaschiert auch einen spannenden Streit: Belebt Deutschland die Wirtschaft der anderen Länder? Oder sind es die anderen, die Deutschland beleben?
Dass gerade die Schwellenländer in Asien und Lateinamerika schon wieder so schnell wachsen – und damit nach Maschinen, Autos und Konsumgütern gieren –, kommt zwar in dieser Massivität überraschend, nicht aber, was den grundsätzlichen Trend betrifft. Die Finanzkrise hat diese Regionen weit weniger hart getroffen als Amerika oder Europa, der Wirtschaftseinbruch war dort weniger stark. Zugleich stützte etwa China die eigene Wirtschaft – und damit auch die Nachfrage nach westlichen Waren – enorm: Umgerechnet 460 Milliarden Euro betrug das chinesische Konjunkturprogramm. Gerade die Wirtschaft Chinas gilt inzwischen als dermaßen überhitzt, dass die Regierung in Peking versucht, den durch die Finanzkrise nur leicht gedämpften Boom eher zu bremsen, als weiter zu befeuern.
Es sind also wirklich die anderen, die Deutschland nach oben ziehen. Auch die Aufträge aus dem Euro-Raum stiegen zwischen April und Juni dieses Jahres um mehr als acht Prozent. Deutschlands Aufschwung lebt von der Nachfrage der Welt. Und dennoch ist es bezeichnend, dass gerade deutsche Waren so gefragt sind. Dank hochwertiger Produkte und vergleichsweise niedriger Kosten sei die heimische Industrie bestens positioniert, sagt Andreas Scheuerle, Volkswirt bei der Deka-Bank. Der Aufschwung als Ergebnis von Fleiß, Sparsamkeit und Ingenieurskunst: Auch diese Erklärung muss man gelten lassen.
Es gibt aber noch eine andere, weniger offensichtliche Facette des Wachstumswunders: Die Wirtschaft des Landes boomt auch, weil die Deutschen sich seit einiger Zeit gar nicht mehr so deutsch verhalten.
Beispiel Schulden: Auch wenn die Regierung ungern darüber spricht – Deutschland hat weltweit eines der größten kreditfinanzierten Konjunkturprogramme aufgelegt. Zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung geben die Deutschen dafür in diesem Jahr aus, schätzt der Internationale Währungsfonds. Mehr tun nur Saudis und Chinesen. Selbst ein Brachialkeynesianer wie Paul Krugman lobt jetzt die deutsche Krisenpolitik.
Beispiel Investitionen: Für den früheren Industrielobbyisten Hans-Olaf Henkel zeigt der Aufschwung, dass sich der Staat aus der Wirtschaft herauszuhalten habe. Und Wirtschaftsminister Brüderle, der sich gegen Regierungshilfen für Opel stellte und die Verstaatlichung der Immobilienbank Hypo Real Estate als »Schlag gegen unsere Wirtschaftsordnung« geißelte, lässt sich jetzt gern mit Zigarre in der einen Hand und Ludwig Erhards Wirtschaftswunderklassiker Wohlstand für Allein der anderen ablichten. Tatsächlich aber gibt der Staat gerade mehr Geld aus als in der Zeit vor der Krise. Laut EU-Kommission steigen die jährlichen öffentlichen Investitionen in Deutschland 2010 auf 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – ein halber Prozentpunkt mehr als in Vorkrisenzeiten. Elf Milliarden Euro gibt die Regierung in diesem Jahr unter anderem für Gebäudesanierungen aus, schätzt Sebastian Dullien, Wirtschaftsprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. Das hilft vor allem der Bauindustrie.
Beispiel Euro-Rettung: Als Exportmarkt für deutsche Waren sind die Länder der Europäischen Währungsunion fast so wichtig wie Asien, Nord- und Südamerika zusammen. Lange hat die Bundesregierung mit sich gerungen, bevor sie dem Rettungspaket für den Euro zustimmte, weil der von deutschen Beamten ausgehandelte Maastricht-Vertrag Nothilfen für andere Länder verbietet. Ohne das Bereitstellen vieler Milliarden für den Rettungsfall aber würden die Staaten Südeuropas jetzt mit der Pleite kämpfen, statt bei deutschen Mittelständlern neue Maschinen zu bestellen. Auch in der anfangs skeptischen Europäischen Zentralbank gilt das Paket heute als Erfolg.
Zwar wird sich das rasante Wachstum Deutschlands in den kommenden Monaten wohl wieder etwas verlangsamen. Die USA stecken immer noch tief in der Krise und fallen als Exportland für deutsche Produkte weitgehend aus; die chinesische Wirtschaft dürfte abkühlen; viele Staaten Europas müssen sparen. Dennoch könnte der deutsche Aufschwung weitergehen. Die Zahl der Arbeitslosen geht zurück, die Löhne könnten bald wieder stärker steigen. Dadurch entsteht Einkommen, das den Konsum stützt. »Die Konjunktur wird die Abschwächung der Weltwirtschaft überstehen. Es wäre schon ein richtiger Schock nötig, um ihn abzuwürgen«, sagt Dirk Schumacher, Chefvolkswirt Deutschland bei der US-Investmentbank Goldman Sachs. Es gilt das eherne Gesetz der Konjunkturforscher: Wenn eine Wirtschaft erst einmal läuft, dann läuft sie.
Es ist eine seltsame Situation: Der Aufschwung ist da – und dennoch ist die Krise nicht vorbei. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht, wenn man überlegt, wie diese Krise begann – als Finanzkrise – und wo sie nun, trotz Wirtschaftswachstum, noch immer spürbar ist: bei den Banken.
Mit 18,2 Milliarden Euro Kapital ist der Staat allein bei der Commerzbank engagiert. Die WestLB hat Wertpapiere von insgesamt 77 Milliarden Euro in eine staatliche Abwicklungsbank ausgelagert. Die Verbindlichkeiten dieser staatlichen Sonderanstalt aber, schreibt das EU-Statistikamt Eurostat in einem Brief an Finanzstaatssekretär Hans Bernhard Beus, sollten künftig »im Staatssektor klassifiziert werden«. Das heißt: Sie müssen anders als bisher voll auf die Staatsschulden angerechnet werden. Würde diese Methode auch bei der Hypo Real Estate angewandt, die 210 Milliarden Euro an den Staat abschieben will, dann stiege die deutsche Schuldenquote um etwa zehn Prozentpunkte. Sie beliefe sich dann auf rund 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – fast so hoch wie in Griechenland vor der Krise.
Den Schulden stehen auch Werte gegenüber, aber dass sich der Staat ohne Verluste aus dem Finanzsektor zurückziehen kann, ist unwahrscheinlich. Noch immer gibt es hierzulande zu viele Kreditinstitute, und wie die staatlichen Landesbanken das Geld verdienen sollen, um unter den geplanten, verschärften Finanzregeln bestehen zu können, ist unklar. So könnten bald sogar neue Kapitalspritzen nötig werden. Der Aufschwung mag da sein, aber ausgestanden ist diese Krise für den Staat noch nicht.
Für die Bundesregierung ist das eine schwierige Situation. Einerseits müssen Union und FDP die Euphorie befördern, den Aufschwung für sich reklamieren und vom Wirtschaftswunder sprechen. Der Aufschwung nährt schließlich den Aufschwung – und mehr Wachstum bedeutet mehr Einnahmen für den Staat. Hält das Wirtschaftswunder an, könnten Bund, Länder und Gemeinden bis Ende 2011 mit Mehreinnahmen von insgesamt 22 Milliarden Euro rechnen, schätzt das Kieler Institut für Weltwirtschaft. Im Regierungslager träumt man schon von einer Wiederholung der Jahre 2006 und 2007, in denen die Wirtschaft überraschend stark wuchs und das Regieren so viel leichter war, weil man die Neuverschuldung senken und dennoch etwas verteilen konnte.
Andererseits ändern wachstumsbedingt höhere Steuereinnahmen nichts am Sparzwang, wie ihn die Schuldenbremse des Grundgesetzes vorschreibt. Dort ist vom strukturellen, also einem vom Auf und Ab der Konjunktur unabhängigen Schuldenstand die Rede – und um diesen zu senken, muss Finanzminister Wolfgang Schäuble in den kommenden Jahren weiter insgesamt rund 70 Milliarden Euro aus dem Haushalt schneiden. Aufschwung hin oder her.
Jetzt rächt sich, dass Union und FDP aus Rücksicht auf die Landtagswahlen in NRW nicht schon im Frühjahr das Sparpaket in Gesetzesform gebracht hatten. Denn ganz gleich, ob Brennelementesteuer, Luftverkehrssteuer oder Ökosteuerprivileg der Industrie: Konsolidierung ist konkret immer dann schwer, wenn die Euphorie des Aufschwungs auch die Minister im Kabinett ergreift – und diese neue Ausgabenwünsche anmelden, statt zu sparen.
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