Helmut Schmidt / Fritz Stern
"Reden Sie langsam, Fritz!"
Helmut Schmidt und Fritz Stern: Der Politiker und der Historiker über ihr Jahrhundert der Katastrophen und Umbrüche. Ein Gespräch
- Datum 18.2.2010 - 16:57 Uhr
© Ingo Wagner/dpa
Fritz Stern: Die gibt’s auch nicht, eine Patentantwort. Aber ich möchte –
Schmidt: Unter uns gesagt: Mein Vertrauen in die Kontinuität der deutschen Entwicklung ist nicht sonderlich groß. Die Deutschen bleiben eine verführbare Nation – in höherem Maße verführbar als andere.
Stern: Alle Nationen sind verführbar, auch die amerikanische, bei der es allerdings noch nicht ausprobiert wurde. – Ich will versuchen, Ihre Frage Punkt für Punkt zu beantworten, mit Teilantworten auf Ihre verschiedenen Fragen, und dazu eben ein paar Notizen machen, damit ich mich richtig daran erinnere, also, wenn es Antisemitismus gab –
Schmidt: Nicht verstanden.
Stern: Antisemitismus –
Schmidt: Sie brauchen nicht laut reden, nur langsam. Ich versteh immer nur die Hälfte, die andere Hälfte muss ich kombinieren. Das habe ich gelernt. Aber wenn Sie zu schnell reden, kommt mein Computer nicht mit. Es ist eine Begleiterscheinung des Alters.
- Zwei Freunde
Helmut Schmidt und Fritz Stern, der deutsche Politiker und der nach Amerika emigrierte, aus Breslau stammende Historiker – sie kennen sich seit mehr als 30 Jahren. Im vergangenen Sommer trafen sich die beiden Freunde drei Tage lang in Schmidts Haus in Hamburg-Langenhorn, um über Themen zu sprechen, die sie ihr Leben lang bewegt haben. Gegen elf Uhr morgens begannen sie, von da an lief das Tonband, mittags machten die beiden eine Pause. Es ging um Deutschland und Amerika, den Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg Chinas, um John F. Kennedy, Helmut Kohl und Johannes Paul II. Das Gespräch zwischen ZEIT-Herausgeber Helmut Schmidt, 91, und Fritz Stern, 84, erscheint am kommenden Montag als Buch. Der Titel lautet lakonisch: »Unser Jahrhundert«. Das erste Wort hat Helmut Schmidt: »Fangen Sie an, Fritz.« Wir dokumentieren eine leicht gekürzte Passage aus dem Gespräch des ersten Vormittags.
Stern: Bei mir ist es so, dass ich schnell spreche, denn wenn ich langsam spreche, habe ich schon wieder vergessen, was ich am Anfang sagen wollte.
Schmidt: Herzliches Beileid. – Fritz, das habe ich als Politiker gelernt: Man muss langsam reden.
Stern: Ich versuche, es zu verinnerlichen. – Also, Antisemitismus gab es in sämtlichen europäischen Ländern –
Schmidt: Nicht in sämtlichen. Skandinavien war ziemlich frei davon.
Stern: Richtig, das ist richtig. Das mag damit zu tun haben, dass es da kaum Juden gab. Da würde man auf Englisch sagen: That helps . Das macht die Sache leichter. In Frankreich vor 1914 war der Antisemitismus in der Öffentlichkeit stärker als in Deutschland. Siehe Dreyfus. Aber – und darauf verweise ich immer als einen der wichtigsten Punkte: Die Gegenströmung gab es auch. Es gab eine republikanische Abwehr.
Schmidt: Es gab Émile Zola.
Stern: Nicht nur ihn. Es gab auch den großen Sozialisten Jean Jaurès; es dauerte etwas länger bei ihm, aber er war ein entschiedener Verfechter der Gleichstellung der Juden und Verteidiger von Dreyfus. Das ist einer der großen Unterschiede zwischen dem deutschen Antisemitismus und dem französischen Antisemitismus. In Deutschland gab es kaum nichtjüdische Personen von einigem Einfluss, die sich des Themas angenommen hätten. Bürger wie Theodor Mommsen waren Ausnahmen. Eine Abneigung gegen die Juden gab es auch in den meisten anderen europäischen Ländern, aber die Diskriminierung im westlichen Europa war weniger stark ausgeprägt.
Schmidt: Die Engländer haben Disraeli immerhin zum Premierminister gemacht.
Stern: Und die Franzosen haben Léon Blum zum Premierminister gemacht – allerdings zu einem unglücklichen Zeitpunkt. Und Mendès-France nach dem zweiten Krieg. In Deutschland war es anders, da gab es diese Abwehrstellung nicht, da kam es nicht zur Verteidigung einer linksliberalen Gesellschaft, die gesagt hätte, das akzeptieren wir nicht. Das macht einen Unterschied. Aber das Fehlen dieses aufgeklärten Bewusstseins brauchte natürlich nicht zum Genozid zu führen. Ich gehöre zu denen, die sagen, dass im Jahre 1933 niemand oder kaum jemand – und damit meine ich auch den sogenannten Führer – an Auschwitz gedacht hat.
Schmidt: Ich halte das für wahrscheinlich. Ich bin allerdings ganz skeptisch, was Hitler betrifft; Sie haben ihn eingeschlossen. Da bin ich nicht sicher. Den Mann habe ich bisher als unberechenbar eingeschätzt – auch für sich selbst unberechenbar.
Stern: Ich beschränke mich darauf, zu sagen, dass er das Hauptziel hatte: Juden raus aus dem Reich und dann, als der Krieg anfing, auch raus aus Europa. Erst als sich das als unmöglich erwies und als ein deutscher Sieg zweifelhaft wurde: Entschluss zum Genozid. Ich weiß, dass es 1933 die wildesten Antisemiten in Deutschland gab, und die hatten die Macht gewonnen; aber ich zögere, eine schnurgerade Linie zu ziehen zwischen 1933 und dem Holocaust. Das Erstaunliche an der NS-Zeit war doch, mit welcher Schnelligkeit sich das alles radikalisiert hat. Und während des Krieges fielen sämtliche Schranken weg.
Schmidt: Wenn man versucht, diesen schnellen Prozess zu erklären, darf man, glaube ich, einen Faktor nicht unterschätzen, der keineswegs ein beherrschender Faktor war, der aber doch eine Rolle spielte. Das ist der Umstand, dass das Elend der Weltwirtschaftsdepression der Jahre 1930 und folgende einerseits wirklich bedrückend gewesen ist. Ich denke zum Beispiel an Lokis Familie: Ihr Vater war sechs oder sieben Jahre lang arbeitslos, der wollte arbeiten. Andererseits war die ökonomische Politik von Schacht und Hitler unglaublich erfolgreich. Deutschland war das einzige Land der Welt, wo der Keynesianismus einen Riesenerfolg erzielte. Dieser Erfolg der Nazis war ein ganz wichtiger Faktor. Das sehen viele nicht. Viele wollen das heute nicht sehen. Wenn ich öffentlich sagen würde, Schacht war einer der erfolgreichsten Ökonomen, die Deutschland je gesehen hat, dann würde man mich für einen Nazi halten. Aber es ist leider wahr. Die Arbeitslosigkeit war 1936 auf null, und vorher hatten wir sechs Millionen Arbeitslose. Die Nazis haben von 1933 bis 1936 ein ökonomisches Kunststück vollbracht, das sonst niemandem in der ganzen Welt gelungen ist.
Stern: Ja, aber da spielt die Wiederaufrüstung eine ganz große Rolle.
Schmidt: Richtig. Die Wiederaufrüstung wurde finanziert durch Herrn Schacht, durch eine unglaubliche Ausweitung des Staatskredits. Es war Keynesianismus in reinster Form.
Stern: Keynesianismus zum gegenteiligen Zweck, wenn ich so sagen darf. Keynes hatte sehr andere, soziale Ziele. Und die Frage ist natürlich, ob Hitler das aufrechterhalten hätte können ohne Krieg – das ist sehr zu bezweifeln. Der ganze Aufschwung drängte nur in diese Richtung. Hinzu kommt, dass Schacht ein übler Mensch war, politisch gesehen.
Schmidt: Schacht war eine zwielichtige Figur. Aber wenn Hitler 1936 erschossen worden wäre, würde er heute als Held der Wirtschaftsgeschichte dastehen. Der ökonomische Erfolg hat die Nazis in den Augen vieler Leute gerechtfertigt, daran habe ich keinen Zweifel.
Stern: Das war ganz sicher so, aber es zeigt ja, dass diejenigen, die bereit waren, ihn als Helden anzuerkennen, auch seine Verbrechen, die offen zutage lagen, akzeptiert haben. Wenn nicht akzeptiert, dann ignoriert. Selbst die Reduzierung der Arbeitslosigkeit war mit Verbrechen verbunden.
Schmidt: Sie war mit Kriegsvorbereitungen sondergleichen verbunden, aber sie war sehr effektiv. Ich wiederhole es: Deutschland von 1933 bis 1936 war der erste Fall von gelungenem Keynesianismus, allerdings in einem Land mit geschlossenen Grenzen, mit Zwangswirtschaft, mit Preis- und Lohndiktat.
Stern: Der Erfolg des Regimes beruhte aber nicht allein auf dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg, vielleicht nicht einmal in erster Linie, sondern auf anderen Faktoren: außenpolitischen Triumphen, innenpolitischer Einschüchterung. Übrigens wurde mir von meinem Vater schon früh beigebracht: »Der Erfolg lehrt nicht«, man kann nicht vom Erfolg lernen, aber das nur nebenbei.
Schmidt: Für mich bleibt dieser Prozess, der 1933 anfängt und 1942 zur Vernichtung der Juden führt, dennoch vollkommen rätselhaft. Es sind keine zehn Jahre. Das ist für mich nach wie vor nicht zu erklären.
Stern: Da pflichte ich Ihnen bei. Es bleibt etwas Unverständliches, etwas Unfassbares.
Schmidt: Ich habe ein dumpfes Gefühl im Bauch, dass es irgendwelche Gene gibt, die dabei eine Rolle spielen. Dass jemand aus dem Handgelenk ein großes Imperium errichtet, das gibt es: Alexander der Große ist ein Beispiel –
Stern: Napoleon.
Schmidt: Wollte ich grad sagen. Und Pizarro und Genossen sind etwas kleinere Beispiele in Südamerika, das gibt es. Aber dass jemand in großer Zahl fabrikmäßig Menschen ermordet – das ist einmalig. Und das ist für mich der Grund, weshalb mir mein eigenes Volk nach wie vor ein bisschen unheimlich ist. Mein Vertrauen in die Deutschen ist nicht unbeschränkt groß, muss ich bekennen.
Stern: Ich bin nicht glücklich mit dem Wort Gene. Es kommt mir einfach zu biologistisch vor, fast schon rassistisch. Ich glaube auch nicht, dass Sie es wirklich meinen: Gene.
Schmidt: Dann sagen Sie angeboren.
Stern: Anerzogen lieber als angeboren. Woran ich mich stoße, ist das Deterministische. Das Wort suggeriert ja, dass es nicht zu ändern wäre, und das macht mich –
Schmidt: Man kann das Wort Gene von mir aus ersetzen und sagen, dass es irgendeine Veranlagung gibt. Das kann man machen, dann ist die Konnotation, die mit dem Wort Gene verbunden ist, vermieden. Aber das Rätsel bleibt, was die Deutschen hier gemacht haben.
- Copyright DIE ZEIT, 18.02.2010 Nr. 08
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