28. November 2010, 19:25 Uhr
Amerikas Diplomaten-Berichte
Geheimdepeschen enthüllen Weltsicht der USA
Hamburg - Wie schätzen die Amerikaner die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein? Ist die Politikerin aus der ehemaligen DDR eine verlässliche Verbündete, hat sie sich bemüht, das unter ihrem Vorgänger belastete Verhältnis zu den USA zu reparieren? Allenfalls so la la.
Zwar habe sie den Ton der transatlantischen Beziehungen verbessern wollen, stellt der ehemalige US-Botschafter William Timken in einer Depesche von Ende 2006 an das amerikanische Außenministerium fest. Sie habe aber "keine mutigen Schritte unternommen, um den substantiellen Inhalt dieser Beziehung zu verbessern".
Ein Lob hört sich anders an.
Und das Urteil über den deutschen Außenminister Guido Westerwelle? Seine Gedanken hätten "wenig Substanz", schreibt höchst undiplomatisch der gegenwärtige Chefdiplomat der USA in Berlin, Botschafter Philip Murphy. Das liege vor allem daran, dass offenbar seine "Beherrschung komplexer außen- und sicherheitspolitischer Themen noch Vertiefung erfordert". Das ist schon eine echte Unfreundlichkeit. (mehr zu Deutschland...)
Aber in den Augen des amerikanischen diplomatischen Corps wird jeder Akteur schnell nach Freund oder Gegner eingeteilt: Der König von Saudi-Arabien? Ein Freund: Abdullah könne seinen Nachbarn Iran nicht ausstehen und halte das Mullah-Regime "ohne Zweifel für irgendwie labil". Sein Verbündeter, Scheich Mohammed Bin Sajid Al Nahjan aus Abu Dhabi? Auch ein Freund: Er ist der Meinung, "ein baldiger konventioneller Krieg mit Iran sei eindeutig besser als die langfristigen Konsequenzen eines nuklear bewaffneten Iran". (mehr zu Iran...)
Den Emissären von Außenministerin Hillary Clinton entgeht wenig: Aus der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku weiß ein spezieller "Iran-Beobachter" von einem Eklat zu berichten, der sich auf einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats in Teheran abgespielt habe. Zornentbrannt sei der Stabschef der Revolutionswächter, Mohammed Ali Dschaafari, auf Präsident Mahmud Ahmadinedschad losgegangen und habe ihm ins Gesicht geschlagen, weil sich der sonst so konservative Staatschef überraschend für mehr Pressefreiheit eingesetzt habe.
Solche Überraschungen aus den Annalen der US-Diplomatie werden in den nächsten Tagen die Schlagzeilen beherrschen, denn von diesem Montag an beginnen die "New York Times", der Londoner "Guardian", der Pariser "Monde", das Madrider "País" und DER SPIEGEL damit, den geheimen Datenschatz des Außenministeriums ans Licht zu holen. Aus einem Fundus von 243.270 diplomatischen Depeschen, die Amerikas Botschaften an die Zentrale sendeten, und 8017 Direktiven, welche das State Departement an seine Botschaften in aller Welt verschickte, versuchen die beteiligten Medien in einer Serie von Enthüllungsgeschichten nachzuzeichnen, wie Amerika die Welt lenken möchte.
SPIEGEL ONLINE wird die Erkenntnisse des SPIEGEL in den kommenden Tagen Stück für Stück veröffentlichen, die Langfassungen der Auszüge von diesem Sonntag finden Sie ab Montag im SPIEGEL.
Es ist ein GAU für die amerikanische Außenpolitik. Nie zuvor sind einer Weltmacht in einem solchen Umfang Aufzeichnungen abhanden gekommen, die die Grundlagen zur Formulierung ihrer eigenen Politik bilden. Nie zuvor ist das Vertrauen von Amerikas Partnern in aller Welt so erschüttert worden: Nun können sie ihre persönlichen Ansichten und Empfehlungen öffentlich nachlesen - und dabei eben auch erfahren, wie die Weltmacht wirklich über sie denkt.
Da wird etwa bekannt, dass es ausgerechnet der Politiker mit dem höchsten Sympathiewert, der deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, ist, der seinen Kollegen Guido Westerwelle vor den Amerikanern bloßgestellt und schlicht verpetzt hat. Oder dass die Außenministerin Hillary Clinton von ihren Botschaftern in Moskau und Rom wissen will, ob etwas dran sei an den Gerüchten, Italiens Präsident Silvio Berlusconi habe mit seinem Männerfreund Wladimir Putin auch Privatgeschäfte eingefädelt, was beide vehement dementieren lassen.
Amerikas Botschafter können gnadenlos in der Beurteilung der Länder sein, in denen sie akkreditiert sind. Das ist ihre Aufgabe.
Kenia? Ein landesweiter Sumpf blühender Korruption. 15 hochrangige kenianische Offizielle sind inzwischen mit einem Einreiseverbot in die USA belegt, fast aus jeder Zeile der Botschaftsberichte spricht Verachtung für die Regierung von Präsident Mwai Kibaki und Premier Raila Odinga.
Die Türkei? Kommt nicht viel besser weg: Unter Premierminister Recep Tayyip Erdogan der mit Hilfe einer Kamarilla inkompetenter Berater regiere, befinde sich das Land auf dem Weg in eine islamistische Zukunft und sei für Europa womöglich schon verloren. (mehr zur Türkei...)
Wie die Ende Juli bekannt gewordenen knapp 92.000 Dokumente zum Afghanistan-Krieg oder die jüngst enthüllten fast 400.000 Dokumente zum Irak-Krieg sind auch die Kabel aus dem State Department der Enthüllungsplattform WikiLeaks zugespielt worden. Vermutlich stammen sie aus derselben Quelle. Und wie zuvor hat WikiLeaks das Material den Medienpartnern zur Prüfung und zur Analyse überlassen. (mehr zu den Dokumenten...)
Mit einem Team von 50 Redakteuren und Dokumentaren hat der SPIEGEL das überbordende Material gesichtet, analysiert und überprüft. Fast immer hat das Magazin darauf verzichtet, die Informanten der Amerikaner kenntlich zu machen, es sei denn, dass allein die Person des Zuträgers schon eine politische Nachricht an sich darstellt. In einigen Fällen trug die US-Regierung Sicherheitsbedenken vor, manche Einwände hat der SPIEGEL akzeptiert, andere nicht. In jedem Fall galt es, das Interesse der Öffentlichkeit abzuwägen gegenüber berechtigten Geheimhaltungs- und Sicherheitsinteressen der Staaten. Das hat der SPIEGEL getan.
In einer Stellungnahme nannte ein Sprecher des Weißen Hauses die bevorstehende Veröffentlichung der Dokumente durch WikiLeaks "unverantwortlich und gefährlich". Die Depeschen seien sehr offen formuliert und oft unvollständig, repräsentierten aber nicht die US-Politik als solche und hätten auch nicht immer Einfluss auf politische Entscheidungen. "Solche Enthüllungen gefährden unsere Diplomaten, Geheimdienstmitarbeiter und Menschen auf der ganzen Welt", sagte der Sprecher. Dass vertrauliche Unterredungen nun publik würden, könne die Interessen der US-Außenpolitik ebenso schwer beschädigen wie die "unserer Verbündeten und Freunde".
Niedergeschrieben im Vertrauen auf Geheimhaltung
Nach den Militärgeheimnissen, die weltweit Schlagzeilen gemacht haben, bringen die Enthüllungen nun die zweite Säule amerikanischer Machtpolitik in Verlegenheit: die Diplomaten. Für WikiLeaks ist es der dritte Coup innerhalb eines halben Jahres, und für die Regierung in Washington muss es sich anfühlen, als sei sie ihrer Kleider beraubt.
Gut die Hälfte der jetzt bekannt gewordenen Botschaftskabel unterliegt keiner Geheimhaltungsstufe, etwas weniger, 40,5 Prozent, sind als "vertraulich" eingeordnet. Sechs Prozent der Dokumente, 15.652 Depeschen, tragen den Vermerk "geheim", 4330 davon sind so brisant, dass sie als "Noforn" ausgewiesen sind, also Ausländern nicht zugänglich gemacht werden dürfen. Aneinander gereiht ergeben diese Dokumente genug Stoff, um 66 Jahrgänge des SPIEGEL zu füllen.
Vieles in diesem Material wird notiert und verschickt, weil die Berichterstatter oder deren Gesprächspartner sicher zu sein glaubten, dass ihre Protokolle während der nächsten 25 Jahre nicht an die Öffentlichkeit gelangen würden. Das erklärt wohl, warum die Botschafter und Gesandten Washingtons auch so viel Klatsch und Berichte vom Hörensagen an die Zentrale melden, etwa wenn es in einem Bericht der Moskauer Botschaft über Medwedews Ehefrau Swetlana heißt, sie schaffe "Spannung zwischen den Lagern", und bleibe "Gegenstand von eifrigem Tratsch".
Der wird dann allerdings gern rapportiert, wenn es zum Beispiel über Russlands First Lady heißt, dass sie schon schwarze Listen von Amtsträgern angelegt habe, denen sie einen Karriere-Knick an den Hals wünsche, weil sie sich dem Präsidenten gegenüber als unzureichend loyal erwiesen hätten.
Politiker verraten die unverblümte Wahrheit
Oder auch dass sich die Gattin des Staatschefs von Aserbaidschan, Mehriban Alijewa, so oft habe liften lassen, dass sie von weitem zwar mit ihrer Tochter zu verwechseln sei, dafür aber ihr Gesicht kaum noch bewegen könne.
Andererseits macht es den Reiz dieser Dokumente aus, dass viele Politiker im Vertrauen auf die Geheimhaltung ihrer Überlegungen die Wahrheit - so wie sie sie sehen - auch einmal unverblümt aussprechen. Dass es jetzt möglich ist, viele politische Entwicklungen rund um die Welt in den Worten der beteiligten Akteure zu dokumentieren und dadurch die Welt besser zu verstehen, ist Grund genug, manche staatlichen Geheimhaltungsvorschriften zugunsten größerer Transparenz hintanzustellen.
Was beweisen nun die Tausende von Dokumenten, lässt sich aus ihnen wirklich rekonstruieren, wie Amerika die Welt am Zügel führt? Sind Washingtons Botschaften noch immer eigenständige Machtzentralen in ihren Gastländern?
Insgesamt wohl eher nicht. In den großen Krisenregionen wird eine Weltmacht sichtbar, die sich ihrer Verbündeten nicht mehr sicher sein kann - so in Pakistan, wo die Amerikaner die Angst beschleicht, die äußerst labile Atommacht könne womöglich genau der Ort sein, der es Terroristen leicht machen könnte, gefährliches Nuklearmaterial in ihren Besitz zu bringen.
Vor allem die Nahost-Depeschen enthüllen die Schwäche der Supermacht
Eine ähnliche Furcht auch im Jemen, wo sich die Amerikaner wider besseres Wissen von einem gewissenlosen Staatschef benutzen lassen. Der kann nun mit amerikanischer Hilfe seinen Kampf gegen feindliche Stämme im Norden führen und zwar mit jener Militärhilfe, die eigentlich für den Kampf gegen al-Qaida gedacht war.
Selbst nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein war es für die Siegermacht nicht leicht, im Irak ihren Willen durchzusetzen. In Bagdad, wo mehrere starke US-Botschafter einander ablösten, die in der internationalen Presse gerne als "amerikanische Vizekönige" beschrieben wurden, ist es inzwischen der nach seinem Rang zweithöchste US-Politiker Vizepräsident Joe Biden, der immer wieder vorbeischauen und die verbündeten irakischen Politiker anhalten muss, endlich eine respektable Demokratie einzurichten. Doch weder Obamas Stellvertreter noch Druck oder gute Worte, das zeigen die Botschaftsberichte überdeutlich, haben bislang geholfen.
Stattdessen müssen die Amerikaner die endlosen Tiraden des ägyptischen Staatschefs Husni Mubarak ertragen, der immer schon gewusst hat, dass der Irak-Krieg der "größte Fehler war, der je begangen wurde" und der den Amerikanern rät, "alles über Demokratie im Irak zu vergessen". Der beste Weg um im Zweistromland einen friedlichen Übergang nach dem Abzug der US-Truppen zu sichern, so hält die US-Botschaft den Rat des Ägypters fest, sei ein Militärputsch. So kommt zum Schaden auch noch der Spott.
Überhaupt enthüllen vor allem die Depeschen aus dem Nahen Osten die Schwäche der Supermacht. Schon immer hat Washington es als überlebensnotwendiges Interesse angesehen, sich seinen Teil an den Energievorräten zu sichern. Doch vor Ort wird die Weltmacht leicht zum Spielball unterschiedlichster Interessen, wird hineingezogen in die Feindschaften zwischen Arabern und Israelis, Schiiten und Sunniten, zwischen Islamisten und Säkularen, zwischen Despoten und Königen. Oft genug, das lehren die jetzt bekannt gewordenen Dokumente, nutzen die arabischen Herrscher die Washingtoner Freunde aus, um eigene Machtpositionen aufzubauen.
Redaktion und Recherche: Dieter Bednarz, Ulrike Demmer, Rüdiger Falksohn, Erich Follath, Friederike Freiburg, Jan Friedmann, John Goetz, Clemens Höges, Frank Hornig, Hans Hoyng, Uwe Klußmann, Horand Knaup, Susanne Koelbl, Andreas Lorenz, Cordula Meyer, Juliane von Mittelstaedt, Yassin Musharbash, Ralf Neukirch, Stefan Plöchinger, Maximilian Popp, Mathieu von Rohr, Marcel Rosenbach, Gregor Peter Schmitz, Holger Stark, Gerald Traufetter, Andreas Ulrich, Bernhard Zand
Dokumentation: Jörg-Hinrich Ahrens, Viola Broecker, Almut Cieschinger, Johannes Eltzschig, Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Silke Geister, Bertolt Hunger, Ralf Krause, Walter Lehmann-Wiesner, Rainer Lübbert, Tobias Mulot, Malte Nohrn, Thorsten Oltmer, Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Eckart Teichert, Nina Ulrich, Karl-Henning Windelbandt
Grafische Umsetzung: Frank Kalinowski, Christopher Kurt, Michael Niestedt, Hanz Sayami
Videos: Jens Radü, Yasemin Yüksel
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