Helmut Schmidt zu Afghanistan
Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen
Aber einen Abzug aus Afghanistan kann es nur mit den Amerikanern geben. Deutschland darf sich nicht isolieren
- Datum 28.1.2010 - 09:34 Uhr
© Ingo Wagner/dpa
1) Für den Problemkomplex Afghanistan/Pakistan/Zentralasien/islamistischer Dschihadismus gibt es gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine überzeugende Lösung. Was Präsident Obama in großer Rede am 1. Dezember 2009 in der US-Militärakademie Westpoint angekündigt hat, könnte – auf Afghanistan begrenzt – theoretisch funktionieren; dass dies tatsächlich geschieht, erscheint mir aber als sehr unwahrscheinlich.
Ich habe im Juli 2008 in einem längeren Gespräch zu viert Bundeskanzlerin Merkel, Bundesverteidigungsminister Jung und Generalinspekteur Schneiderhan die weitgehende Aussichtslosigkeit des inzwischen von Obama präzisierten Vorhabens erläutert. Ein westliches »Gewinnen des Krieges« erschien damals, im Sommer 2008, bereits als erheblich unwahrscheinlicher als noch zu Beginn der Operation im Jahre 2001/02. Bestenfalls schienen mir im Sommer 2008 regionale Teilerfolge erreichbar zu sein.
Ich habe damals gegenüber meinen Gesprächspartnern die ursprüngliche deutsche Beteiligung und die deutsche Konzentration auf die Aufbauarbeit als legitim und als plausibel bezeichnet. Ich habe keineswegs für einen deutschen Abzug plädiert. Wohl aber habe ich auf die Möglichkeit eines gründlichen Stimmungsumschwungs im deutschen Volke hingewiesen, der auf Abzug drängen wird.
Inzwischen zeichnet sich aber eine Tragödie im klassisch-griechischen Sinne ab. Denn die Zahl der transkontinental aktiven terroristischen Dschihadisten hat sehr zugenommen und nimmt weiter zu.
Die Tatsache, dass Obama seit seiner Wahl zum Präsidenten über ein Jahr gebraucht hat, bis er sich zu einer der ihm vorgelegten Handlungsalternativen entschließen konnte, hat die Unwahrscheinlichkeit des Erfolges der militärischen Intervention zusätzlich unterstrichen.
- Die große Konferenz
Afghanistan könnte für den Westen verloren gehen. Diese Gefahr sehen inzwischen alle am Einsatz Beteiligten, die USA, die EU, die Nato und die UN. Deshalb treffen sich ihre Vertreter in London zu einer großen Konferenz. Dort soll eine neue Strategie festgelegt werden, um das Blatt noch zu wenden. Die Konferenz geht auf eine Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und dem britischen Premierminister Gordon Brown zurück. Einer der zentralen Diskussionspunkte wird sein, wann die afghanischen Sicherheitskräfte mehr Verantwortung im eigenen Land übernehmen sollen und mit einem Abzug westlicher Truppen begonnen werden kann. Klar ist aber, dass es zunächst zu einer Truppenaufstockung kommen wird. Bundeskanzlerin Merkel hat angekündigt, 500 zusätzliche Soldaten zu schicken und weitere 350 als »flexible Reserve«. Die Zahl der Ausbilder für die afghanischen Streitkräfte soll auf 1400 aufgestockt werden. Damit sind bald 5350 deutsche Soldaten am Hindukusch. Gleichzeitig will die Bundesregierung die zivile Wiederaufbauhilfe stärken und ein Programm für ausstiegswillige Talibankämpfer anbieten. MAZ
2) Zweite persönliche Vorbemerkung: Für mich rangiert das Interesse Deutschlands eindeutig höher als jedwedes taktische Interesse der sozialdemokratischen Oppositionspartei.
3) Das deutsche Interesse gebietet, dass Deutschland sich weder innerhalb der Nato noch innerhalb der Europäischen Union isoliert – zum Beispiel durch ein alleiniges oder früheres Ausscheiden aus der gemeinsamen Intervention. Die immer noch erhebliche Funktionsfähigkeit sowohl der Nato als auch der EU sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. An diesem grundlegenden deutschen Interesse würde auch ein etwaiger Abzug der kanadischen und der holländischen Kontingente nichts ändern.
Es bleibt dringend geboten, alle deutschen Stellungnahmen jedenfalls mit Frankreich (und mit anderen europäischen Regierungen) abzustimmen. (Von Obamas in Bezug auf den afghanischen Krieg fulminantem Wahlkampf im Sommer und Herbst 2008 bis zu seiner großen Rede am 1. Dezember 2009 hat es leider keine deutsch-französische Initiative und keinen Ratschlag gegenüber Obama gegeben.)
Einige geografische, demografische, historische und strategische Tatsachen müssen in Erinnerung gerufen werden
4) Afghanistan ist weder ein funktionstüchtiger Staat (es ist noch niemals ein dauerhaft funktionstüchtiger Staat gewesen) noch eine Nation. Es handelt sich vielmehr um eine Vielzahl von Völkern und Stämmen. Deshalb bleibt auch pro futuro ein voll funktionsfähiger Staat sehr unwahrscheinlich.
5) Den relativ größten Anteil an der afghanischen Bevölkerung haben die Paschtunen (mindestens 40 Prozent). Das Volk der Paschtunen wurde durch einen Willkürakt der britischen Kolonialverwaltung in Indien am Ende der 1890er Jahre zweigeteilt; der kleinere Teil lebt im Osten Afghanistans, der größere Teil lebt in den sogenannten Stammesgebieten im Westen Pakistans. Die Staatsgrenze zwischen Afghanistan und Pakistan ist außerordentlich durchlässig, die Zusammengehörigkeit des paschtunischen Volkes hat sich in dessen Bewusstsein durchaus erhalten.
Den nächstgroßen Anteil haben die Tadschiken (25 Prozent); wie die Paschtunen haben die Tadschiken ihre eigene Sprache. Kleinere Bevölkerungsanteile entfallen auf die Hasara (15 Prozent), Usbeken, Turkmenen, Kirgisen und viele weitere. Die USA haben im Laufe der Intervention in realistischer Einsicht ihre zwischenzeitliche Vorstellung eines Nation-Building in Afghanistan aufgegeben.
6) Die Fläche Afghanistans ist etwa doppelt so groß wie die Fläche Deutschlands, bevölkert mit nur gut 25 Millionen Menschen. Im Norden haben wir Hochgebirge (Hindukusch, bis zu 6000 und 7000 Metern!), im Süden dagegen Steppe, Wüste und Steinwüste.
7) Das Gebiet des heutigen Afghanistans ist in der Geschichte oft zwischen äußeren Mächten umkämpft gewesen und größeren Reichen einverleibt worden – von Alexander dem Großen oder den Mongolen bis zu den Engländern im 19. Jahrhundert und den Sowjets in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Bis heute hat keine ausländische Macht auf längere Dauer das Territorium beherrschen können.
8) Der Krieg der USA und der Nato in Afghanistan dauert bereits länger als die beiden Weltkriege. Es handelt sich nicht um einen »normalen« Krieg gegen einen fremden Staat. Vielmehr ist es einerseits ein Guerillakrieg gegen terroristische Partisanen, zum Teil aus dritten Ländern stammend, wie etwa al-Qaida, zum Teil aus Afghanistan stammend. Andererseits findet zugleich ein Bürgerkrieg statt, den die Taliban gegen die eigene Regierung in Kabul führen, gegen lokale und regionale Machthaber und gegen Teile der eigenen Bevölkerung.
9) Nachdem al-Qaida längst auf pakistanisches (und auf jemenitisches?) Gebiet ausgewichen ist, findet gegenwärtig der Krieg der über 40 verbündeten Interventionsmächte im Wesentlichen gegen die Taliban statt. Die Taliban erhalten logistische Unterstützung und vor allem Führung aus den sogenannten Stammesgebieten im Westen Pakistans.
10) Um die weit über 2000 Kilometer lange Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan effektiv zu schließen und sodann die innerhalb Afghanistans befindlichen Taliban an weiteren Akten des Bürgerkrieges und des Terrorismus zu hindern, brauchte man nicht nur 100000 oder 150000 westliche Soldaten vor Ort, sondern eher die dreifache Zahl! Dazu sind die westlichen Regierungen weder materiell fähig noch willens.
11) US-Präsident Obama sind die materiellen und die innenpolitisch-psychologischen Begrenzungen bewusst. Zugleich droht ihm die Zeit davonzulaufen. Deshalb hat er vorbeugend für den Sommer und Herbst des Jahres 2011 den »Beginn« des Truppenabzugs angekündigt. Strategisch ist diese Ankündigung riskant; denn die Kriegsgegner können warten, und ihre Zahl wird ständig größer.
12) Ein notwendiges Wort zu Pakistan. Afghanistan hat sechs unmittelbare Nachbarn. Der bei Weitem größte und zugleich wichtigste Nachbar ist der 1947 gegründete Staat Pakistan; demnächst wird das Land nahe an 200 Millionen Einwohner haben, weit überwiegend Muslime, ebenso wie in Afghanistan.
Die sogenannten Stammesgebiete im Westen Pakistans (unmittelbar an der Grenze zu Afghanistan) entziehen sich weitgehend der Kontrolle der Zentralregierung in Islamabad.
Pakistan ist innenpolitisch labil, häufiger von Militärdiktaturen regiert. Die Armeeführung ist mit der Vorstellung groß geworden, Indien sei der bei Weitem wichtigste Gegner, während Afghanistan meist als ein zu vernachlässigendes rückwärtiges Gebiet angesehen wurde. Dagegen ist die Stimmung unter den jüngeren Rängen der Armee und insbesondere in den pakistanischen Geheimdiensten zumindest undurchsichtig und schwer vorhersehbar. Teile der pakistanischen Geheimdienste arbeiten sowohl mit den Amerikanern als auch mit den Taliban zusammen; ursprünglich waren die Taliban eine pakistanische Schöpfung.
Die regelmäßige Bombardierung von Zielen im Westen Pakistans durch die amerikanische CIA mittels unbemannter Flugzeuge (sogenannter Drohnen) trägt zur antiamerikanischen Verbitterung bei; denn ganz zu schweigen von der moralischen oder der rechtlichen Qualität dieses neuartigen Luftkrieges führt er jedenfalls unvermeidlich zu erheblichen Opfern unter der zivilen pakistanischen Bevölkerung.
13) Für den Fall anhaltender innerer Instabilität Pakistans bliebe die Sicherheit Afghanistans abhängig von massiver westlicher Truppenpräsenz.
14) Auf mittlere Sicht könnte es zu einem der größten Probleme Pakistans werden, bei wem letzten Endes Befehlsgewalt und Kontrolle über die atomaren Waffen des Landes verbleiben.
15) Die für die Intervention in Afghanistan grundlegenden Beschlüsse des Sicherheitsrates der UN sind mit den Stimmen Chinas und Russlands gefasst worden. Beide haben jedoch seither außerordentlich zurückhaltend agiert. Mit Ausnahme der USA stehen die Weltmächte abseits. Bisher haben die USA keinen ernsthaften Versuch gemacht, die anderen Welt- und Großmächte einzubeziehen.
Die Zurückhaltung gilt auch für die Großmächte Indien, Iran und Türkei und für die fünf zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan.
16) Sowohl für Russland (mindestens 15 Millionen Muslime im Süden des Staates) als auch für China (aufständische Uiguren in der Provinz Xinjiang) und ebenso für Indien besteht die Gefahr des Übergreifens von dschihadistischen und terroristischen Strömungen. Ein schneller Abzug der westlichen Interventionsmächte hätte nicht nur für Afghanistan mörderische Folgen, sondern auch für weite Teile Zentralasiens.
17) China hat sich in den letzten Jahren verstärkt den Rohstoffquellen (vor allem Öl und Gas) in Zentralasien zugewandt. Außerdem ist neuerdings in den chinesischen Zeitungen eine Diskussion darüber im Gange, ob es nicht im strategischen Interesse Chinas läge, sich stärker in Afghanistan zu engagieren. Auch in Russland regt sich seit Kurzem eine ähnliche quasiöffentliche Diskussion. Es ist denkbar, dass sich daraus Chancen für die Diplomatie der westlichen Interventionsmächte ergeben.
18) Auf mittlere Sicht scheinen weniger die im Wesentlichen paschtunischen Taliban innerhalb Afghanistans der wichtigste Gegner der militärischen Intervention zu sein; vielmehr sind die Widerstands- und Führungszentren auf Pakistans Boden von ausschlaggebender Bedeutung.
19) Die deutsche Beteiligung an der Intervention ist völkerrechtlich gedeckt. Sie lag (und liegt auch heute) zugleich im deutschen Interesse, denn al-Qaida bedroht auch uns. Wir haben bisher Glück gehabt wegen der Konzentration unserer Isaf-Aktivitäten im lange Zeit relativ ruhigen Norden.
Allerdings macht die deutsche Führung einen ähnlich ratlosen Eindruck wie Obama; die Hoffnung auf eine Klärung durch die bevorstehende internationale Afghanistankonferenz läuft möglicherweise auf einen bloßen Zeitgewinn hinaus.
20) Diese Konferenz sollte sich jedenfalls erstmalig und ernsthaft mit der Frage befassen, mit welchen Gruppen, Stämmen oder Völkern (oder Regionen) die Interventionsmächte Verhandlungen suchen sollen. Möglicherweise muss man sich den Waffenstillstandspartner erst selber konstruieren.
Wer mit der Eventualität rechnen muss, einen Krieg trotz großer eigener Opfer zu verlieren oder abbrechen zu müssen, der sollte rechtzeitig Verhandlungen mit den Kriegsgegnern einleiten. Es sollte deshalb auch versucht werden, diplomatische Hilfe durch die Weltmächte zu erreichen.
21) Es erscheint mir als zweckmäßig, nachdem Obama den Beginn des Abzugs für Sommer und Herbst 2011 angekündigt hat, dass die deutsche Regierung ebenfalls erklärt, im Jahre 2011 mit dem Abzug der deutschen Truppen zu beginnen.
22) Der Schwerpunkt der Aufgaben deutscher Soldaten und Beamten in Afghanistan sollte weiterhin bei der Ausbildung afghanischer Polizei und Armee und beim zivilen Aufbau liegen. Man muss aber wissen, dass dies nicht sonderlich erfolgreich sein wird. Wo es keinen funktionierenden Staat gibt, dort bleibt eine funktionierende Polizei bestenfalls regional beschränkt. Idealistische Illusionen führen später zu Enttäuschung und zu Ratlosigkeit.
23) Ich empfehle eindeutige und entschiedene Zurückhaltung gegenüber dem zu erwartenden amerikanischen Drängen auf zusätzliche deutsche Kampftruppen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Bundeswehr immer noch eine Wehrpflichtarmee ist; wir können keinesfalls Wehrpflichtige nach Afghanistan schicken.
Der amerikanischen Öffentlichkeit muss unüberhörbar gesagt werden: Wir Deutschen sind nach dem von uns verschuldeten Zweiten Weltkrieg und nach unserer totalen Niederlage deutlich weniger kriegsbereit als manche jener Nationen, welche beide Weltkriege gewonnen haben. Diese Haltung resultiert nicht aus idealistischem Pazifismus, auch nicht aus verwerflicher Feigheit, sondern aus der Einsicht in die katastrophale militärische Fehlentwicklung Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese Lehre gelernt zu haben ist weiß Gott keineswegs verwerflich!
24) Gleichzeitig empfehle ich, den Schwerpunkt des parlamentarischen Untersuchungsausschusses nicht auf die Vorgänge in Afghanistan um Oberst Klein zu legen, sondern das Gewicht vielmehr auf die Vorgänge in Berlin zu konzentrieren. Jede Unterminierung der psychologischen Lage unserer Soldaten sollte vermieden werden. Schon jetzt hört man von deutschen Truppenteilen in Afghanistan, unsere Soldaten vor Ort seien angesichts der Diskussion in Berlin »ziemlich deprimiert«.
Einige geschichtsphilosophische Schlussbemerkungen
25) Ich muss vermuten, dass sich der Westen letztlich nur unter großen Verlusten der Zivilbevölkerung, der Soldaten, Verlusten an Ansehen und politischem Prestige aus Afghanistan »herauswursteln« kann – wenn überhaupt.
26) Ich weiß, dass meine sehr realistischen Urteile und Empfehlungen als Pessimismus missverstanden werden können. Weil unserem Volke und dem Bundestag möglicherweise sehr schwierige Abwägungen und Entscheidungen bevorstehen, erscheint mir allerdings ein hohes Maß an Realismus geboten. Dagegen könnte jedweder Idealismus uns in die Irre führen, egal, ob er humanitär oder religiös oder ideologisch-politisch begründet wird.
27) Man muss den afghanischen Krieg im Zusammenhang sehen mit jenen vielen anderen Konflikten, an denen auf der Gegenseite des Westens islamische Staaten und Völker beteiligt sind (Kosovo, Bosnien, Irak, Iran, Westjordanland und Gaza, Mittlerer Osten). Selbst wenn die westliche Intervention in Afghanistan Erfolg haben sollte, dann werden neue Dschihadisten voraussichtlich an anderen Orten neue Führungszentren etablieren.
Denn bei der seit zwei Jahrzehnten zunehmenden Neigung des Westens zu militärischen Interventionen bleibt es relativ leicht, an neuen Orten zusätzliche Koranschulen einzurichten und dort auch Dschihadisten und Terroristen auszubilden (das Geld dafür kommt nicht aus der Nachbarschaft der Taliban, sondern vielmehr von weit her).
28) Das Verhältnis des Westens zum Islam insgesamt ist durch eine grundsätzliche Animosität und Überheblichkeit des Westens gekennzeichnet. Dabei summieren sich seit Jahrhunderten Verhaltensfehler des Westens und die gegenwärtige demografische Explosion in vielen islamischen Staaten – bei anhaltender Armut und beständiger ökonomischer Drittrangigkeit.
No hay comentarios:
Publicar un comentario