Die Leere der Macht
Hohe Arbeitslosigkeit, Angst vor der Zukunft – und jetzt auch noch niedrige Wahlbeteiligung: Die Franzosen entfremden sich von ihrem Staat
© dpa
Der französischen Demokratie kommt ihr Demos abhanden, das Volk. Nicht einmal die Hälfte der Stimmberechtigten erschien am vergangenen Sonntag vor den Urnen, um sich an der ersten Runde der Regionalwahlen zu beteiligen – bei der Wahl vor sechs Jahren waren es noch fast zwei Drittel. Die Sarkozysten haben verloren, und ihre Stimmenverluste waren ausgerechnet in ihren Bastionen am größten, unter den Handwerkern, Kleinunternehmern, geringverdienenden Arbeitern; die linken Parteien kassierten zwar eine Stimmenmehrheit, die aber kaum ein Sechstel der Wahlberechtigten ausmacht.
»Ich traue weder der Rechten noch der Linken zu, das Land zu regieren«, diese Aussage kreuzten zuvor 67 Prozent in einer Umfrage an. Dass »die Dinge immer schlimmer werden«, das glauben 79 Prozent der Franzosen. Jeder zehnte ist arbeitslos, unter den anderen geht die Furcht um, es zu werden. Die Mehrheit hält es für möglich, über Nacht das Obdach zu verlieren. Frankreichs Jugend ist die pessimistischste in Europa.
Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Wahlbeteiligung, Zukunftsängste – das sind keine rein französischen Probleme, man kennt sie in ganz Europa, auch in Deutschland. Aber in Frankreich geht die damit verbundene Entfremdung besonders tief. »Die Gesellschaft ist gespalten, und dieser Befund war noch sie so akut wie jetzt«, ein »Gefühl der Ungerechtigkeit« gehe um, es mische sich mit »Groll, der bereit ist, sich in den bösesten Formen zu entladen« – das schreibt nicht ein Linker, sondern es steht im Jahresbericht des »Mediators der Republik«, einer Art Ombudsmann. Frankreichs »seelisch ermüdete« Bürger mühten sich durch den Alltag, während der Staat in einem »normativen Nebel« versinke. Gerieten sie in Schwierigkeiten, erlebten sie das Versagen der Instanzen, vom Arbeits- bis zum Wohnungsamt – »das Schweigen ist eine übliche Reaktion der Institutionen auf den Bürger geworden«.
Ausgerechnet im etatistischen Frankreich lässt der Staat seine Bürger zuweilen schutzlos. Es existieren rechtsfreie Räume. Das kann ein Unternehmen sein, das am Prekariat verdient; eine Siedlung, in die sich kein Ordnungshüter traut; eine Vernehmungszelle, zu der ein Anwalt keinen Zutritt hat. Jean-Luc Mélenchon, ein kluger Linkssozialist, notierte zwischen zwei Wahlkampfterminen kürzlich diese Beobachtung: »Im Inneren unserer Gesellschaften reproduzieren sich Grauzonen der Anomie. Dienste brechen zusammen, Funktionen versagen. Die Kette der kleinen Dinge, die unser Alltagsleben ausmachen, reißt vor aller Augen. Der Stress infiltriert jede Tätigkeit, begleitet von der Angst vor dem Nichts.«
Wo ist die Zuversicht geblieben, die im Sommer 2007 gemessen wurde? Im Wettbewerb um den richtigen Aufbruch nach der Stagnation unter Jacques Chirac hatte ein volksnaher Nicolas Sarkozy gegen die Sozialistin Ségolène Royal und ihr Programm einer »partizipativen Demokratie« gewonnen. »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen« lautete seine Losung. Sie wird heute nur noch im Spott zitiert. Und es grassiert ein Antisarkozysmus, der zwischen Dämonisierung und Banalisierung schwankt. Für Kritiker wie den Anthropologen Emmanuel Todd ist Sarkozy der Ausdruck eines »Endes der Demokratie«; für andere Nur ein Präsident, mit dem wir Zeit verlieren – so lautet der Titel eines soeben erschienenen Buches.
Und wenn, nach Abzug der Übertreibungen, beide recht hätten?
Karl Marx bemerkte einmal, Frankreichs Revolutionsjahre 1793 und 1794 seien »eine plebejische Manier« gewesen, »mit den Feinden der Bourgeoisie fertig zu werden«. Über den Sarkozysmus ließe sich sagen, er sei als plebejische Manier angetreten, Frankreich für den modernen Kapitalismus zu öffnen. Sein Programm, von Sarkozy »Bruch« genannt, enthielt eine Kampfansage von rechts an eine konservative Elite, die sich in der Stagnation eingerichtet hatte. Die demonstrative Vulgarität des Präsidenten war nicht nur Populismus, sondern sollte auch die »Prinzen der Republik« destabilisieren. Zum gleichen Zweck ging Sarkozy, kaum im Amt, sogleich sämtliche Reformen an.
Es stellten sich jedoch zwei Hindernisse in den Weg. Zum einen die Krise. Sarkozys wirtschaftsliberales Reformprogramm passt nicht mehr in die Landschaft, die Bevölkerung will Schutz, nicht Freiheit zum Risiko. Das zweite Hindernis wiederum ist institutionell. »Wir sind ein altes Land, das seit je daran leidet, dass seine politische Exekutive machtvoll wirkt, in Wahrheit aber schwach ist, weil sich ihr Myriaden anderer Gewalten entgegenstellen«, sagt der Historiker Max Gallo.
Sein Appartement mit Blick auf das Panthéon ist randvoll mit Büchern, Bildern, Statuen. Der 78-Jährige lässt den Blick schweifen und ergänzt: »Das Ancien Régime bestand ebenfalls nicht nur aus dem König, sondern auch aus Parlamenten, Richtern, lokalen Würdenträgern.« Das Prinzip setze sich heute fort. »An der Oberfläche sieht Frankreich aus wie eine Wahlmonarchie, aber in Wahrheit wird die Zentralmacht von tausend Fäden gefesselt, von Regionalpräsidenten, Räten, Bürgermeistern und so weiter.«
Das aber sei eine informelle Gewaltenteilung, die keinen klaren Regeln folge, wie Denis Olivennes kritisiert, der Herausgeber des linken Intelligenzblatts Nouvel observateur . »Wahlen allein ergeben noch keine Demokratie, Sie brauchen eine funktionierende Gewaltenteilung. Weil die bei uns fehlt, nimmt das politische Spiel chaotische Gestalt an: Gesetz – Proteste – Konsultation – Kompromiss.« Die politische Klasse verstehe nicht, dass sie von ihrer Macht etwas abgeben müsse, um wirklich regieren zu können, setzt Olivennes fort. An wen könnte sie die abgeben? »An die Regionen. Und an die Zivilgesellschaft, zum Beispiel die Sozialpartner.«
Was Olivennes da fordert, ist nichts weniger als eine neue Republik. Die Abkehr vom Prinzip der unteilbaren Souveränität, das die Revolution von 1789 beseelte. In die Welt von heute passt es nicht mehr. Die Zeit ist vorbei, in der man sich die Demokratie als Pyramide vorstellen durfte. Globalisierung und Individualisierung, Dezentralisierung des Wissens und das Aufkommen nicht staatlicher Mitspieler lassen unweigerlich ein Netz wechselseitiger Kontrollen entstehen. Und das ist dann entweder wohldefiniert oder eben verworren.
Sarkozys Stil indes bleibt pyramidal. Zwar werden alle naslang »Generalstände« einberufen, also Zusammenkünfte gesellschaftlicher Gruppen, doch Entscheidungen stehen nur dem Chef zu. Geradezu verbissen versucht er, Gegenkräfte unter Kontrolle zu halten und Widerstände durch Dauerfeuer zu paralysieren. Die Assemblée nationale bricht unter der Masse der zu behandelnden Regierungsprojekte förmlich zusammen, ihre Debatten dauern oft bis Mitternacht. Das Élysée regiert bis in die Details in die Parlamentsmehrheit hinein. Die Ministerien werden nicht vom Premierminister, sondern vom Beraterstab des Präsidenten angeleitet. Der Konflikt zwischen dem Élysée und dem Hôtel Matignon, dem Sitz des Premiers, ist so alt wie die fünfte Republik, aber Sarkozy ist der erste Präsident, der den Premierminister einen »Mitarbeiter« nennt und der das Regierungsprogramm nicht von diesem, sondern von seinem eigenen Chefberater verkünden lässt – im Fernsehen. Dessen Kontrolle durch den Staat hat sich übrigens unter Sarkozy nicht wirklich verschärft, aber sie geschieht in plebejischer Offenheit.
Mag der Präsident auch allgegenwärtig sein, allmächtig ist er nicht. Zentralismus hat soziologische Konsequenzen. In Frankreich existiert der Begriff des »hohen Beamten«, der Angehörige der Verwaltungselite bezeichnet. Diese Elite ist diplomokratisch; für die Karriere zählen in erster Linie Abschlussnoten und Ergebnisse in Wettbewerben. Mit dieser Kaste ein Bündnis zu schließen ist dem Sarkozysmus nicht gelungen, sie zu schwächen ebenso wenig. Das Vorhaben, seinen Sohn Jean, einen Studenten, in ein bedeutendes Amt zu hieven, war der jüngste Versuch, mit Gewohnheiten zu brechen, aber das republikanische Volk roch den Nepotismus, und der taktische Vorstoß endete im Desaster.
Strategisch wurden gegen die Beamtenkaste alle möglichen »Tools« des Projektmanagements in Stellung gebracht, Zielvereinbarungen, Evaluierung, Zahlenvergleiche. Aber die aus dem angelsächsischen Raum übernommenen Methoden des new public management stoßen auf Widerstand, der noch dazu intellektuellen Feuerschutz aus den Hochschulen bekommt. Ganze Professorenregimenter warnen vor dem Sieg der Zahlen über den Sinn. Mit den Standesinteressen der Lehrenden verschränkt sich wiederum die Unruhe der Studenten und Schüler, denen es nicht gut geht im Land der jahrelang verschleppten Bildungsreformen.
Stummer Widerstand hier, öffentlicher Protest dort, und die Politik weicht zurück. Rund die Hälfte der Normen, die von der Regierungsmehrheit im Parlament beschlossen wurden, bleibt mangels Regierungsverordnungen oder Budgets unanwendbar. Ist das noch die »fünfte Republik«, die Charles de Gaulle 1958 gegründet hatte? »Nein«, antwortet der Historiker Max Gallo, »der General wollte eine starke Präsidentschaft mit Prädominanz über das Parlament. Aber das ist vorbei. Die Wahlperiode wurde von sieben auf fünf Jahre verringert, die Präsidentenwahl mit der Parlamentswahl zusammengelegt – heute zählt nach zweieinhalb Jahren Regierung nur eins: die kommende Wahl.«
Auf diese Weise sei das Land im »schlimmsten der möglichen Zustände angekommen«, sagt Arnaud Teyssier; er ist Staatsdiener und veröffentlichte kürzlich ein Buch über die Regierungskunst des Zentralisten Richelieu. Unglücklich ist er mit dem Zustand einer Demokratie, »die weder richtig präsidentiell noch richtig parlamentarisch ist und in der die Exekutive am Gängelband der öffentlichen Meinung läuft. Wir sind steckengeblieben zwischen der alten zentralistischen und der neuen multizentrischen Welt. Die Macht degeneriert zur Moderation.«
Eine Rolle, die dem Selbstbild Sarkozys widerspricht. Hatte er nicht, um des »Bruches« willen, geradezu einen Kult des Handelns begründet? An ihm hält er fest. Sarkozy entscheidet nicht etwa diktatorischer als andere Präsidenten vor ihm, aber aktionistischer. Über Ämter, Kommissare, Arbeitsgruppen, Runde Tische und dergleichen mehr; doch was vor Jahresfrist noch wie Tatkraft wirkte, lässt die Franzosen heute abwinken. »Sie müssen da mittlerweile Kategorien aus der Altersforschung anwenden«, spottet Emmanuel Todd, »und zwar Arthrose, Sklerose, Alzheimer, Schizophrenie.« So wie Todd beschreiben viele Franzosen die Politik: als wahrnehmungsgestörten Patienten, der in seinem schmuck möblierten Pflegeheim namens Paris hockt und bloß noch gestikuliert.
»Die Leere ist an der Macht«, sagt Todd. Ihm zufolge fehle der Demokratie die »Transzendenz«, um die es sich zu streiten lohne. Wie das gemeint sei? Weder die Rechte noch die Linke seien bereit, über das Gegebene hinauszudenken: an Eingriffe in die Dominanz einer bestimmten Gesellschaftsklasse über die Wirtschaft, damit Frankreich und Europa nicht unter die Räder der Globalisierung gerieten. Der Rechten bliebe nur die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung übrig, begleitet von nationalistischer und autoritärer Propaganda. Der Linken nicht einmal das. Ihre ideenlos gewordene Partei, die sozialistische PS, reproduziere sich ohne historische Ambitionen in den regionalen Körperschaften und lebe in einer Art antagonistischen Symbiose mit den Rechten.
Auch mit dieser Meinung steht Todd nicht allein, ebenso wenig mit der, dass Frankreich ein Globalisierungsverlierer sei. Und in der Tat, mangels politischer Modernisierung verfällt die Exportkraft, die Staatsverschuldung weitet sich aus, und es ist sogar schon davon die Rede, dass die nationale Kreditwürdigkeit herabgestuft werden könnte. Früher oder später muss die Regierung einen schmerzhaften Kurs der Kostensenkung einschlagen, je später desto schlimmer.
Doch ein griechisches Szenario wäre hochgefährlich. Seit der Pariser Kommune von 1871 ist es nicht mehr zu einem Bürgerkrieg gekommen, sagt Max Gallo, »aber jede Demokratie ist nur ein Ölfilm auf einem aufgewühlten Meer, und sie kann schnell in Barbarei umschlagen. Das kann Gewalt von rechts oder von links sein, mit dem Ergebnis eines autoritären Staates.« Auch deshalb warnt der mit den Jahren konservativ gewordene Intellektuelle vor der »Gewaltsprache« des hysterischen Antisarkozysmus, wie ihn einige Linke verbreiten.Gallo malt den Teufel an die Wand. Aber wie sähe ein erfreuliches Ende der fünften Republik aus? Das wäre ein Regime, das die Gewaltenteilung schärfte, lokale Demokratie aufbaute und Kompetenzen in die Gesellschaft zurückgäbe. Doch leider hat diese sechste Republik zurzeit nur wenige Anhänger.
No hay comentarios:
Publicar un comentario